Orientierungswissen mittelalterlicher Handschriftenkunde

II. Kodikologie: Aufbau und Materialität einer Handschrift

 

Beschreibstoff

Ein für die Entwicklung der europäischen Schriftkultur zentraler Wechsel des Beschreibstoffs vollzieht sich im Lauf des 14. Jahrhunderts. So wird der seit vorchristlicher Zeit bekannte Beschreibstoff des Pergaments im deutschsprachigen Raum ab den 20er Jahren des 14. Jahrhunderts schrittweise vom sich neu etablierenden Papier abgelöst.[1] Paul Needham veranschaulicht diese Verschiebung statistisch, wenn er auf Grundlage von über 2000 ausgewerteten Handschriften feststellt, dass im 14. Jahrhundert noch 69% der Handschriften auf Pergament als vordergründigen Beschreibstoff zurückgreifen, während es im 15. nur noch 30% sind.[2] Entscheidender Faktor für seine Durchsetzung ist dabei die billigere und leichtere Verfügbarkeit des Papiers, dessen Produktion nicht mehr auf die teure und aufwendige Verarbeitung von Tierhäuten angewiesen ist. Das Papier wiederum konnte zunächst vor allem in Italien und Frankreich erhandelt und von dort importiert werden, ehe seit dem Ende des 14. Jahrhunderts die ersten Papiermühlen auch im deutschsprachigen Raum entstanden.[3]

Format

Die Formatgrößen mittelalterlicher Codices folgen, egal ob Pergament oder Papier als Beschreibstoff dient, denselben Prinzipien. Ausgangspunkt ist im Normalfall in beiden Fällen ein rechteckiges Blatt, das in seiner Größe variieren kann:

Berlin, SBB, Ms. germ. oct. 364, fol. 5r; Gebetsbuch im Oktavformat (Digitalisat: http://resolver.staatsbibliothek-berlin.de/SBB000059AD00000016 [09.10.2025])
Wenzelbibel im Folioformat; Wien, ÖNB, Cod. 2759, fol. 1r (Digitalisat: https://data.onb.ac.at/rep/131D8987 [09.10.2025]) 
Im Fall von Pergament sind die Maximalmaße eines Blattes abhängig von der Größe des verarbeiteten Tieres. Als durchschnittlich kann ein Umfang von 50–55 × 70–80 cm angenommen werden.[4] Hinsichtlich des Papieres ist die Größe des zugrundeliegenden Ausgangsbogens abhängig von den Maßen des verwendeten Schöpfsiebes, die regional, aber auch individuell voneinander abweichen können. Verbreitet ist jedoch die sogenannte Kanzleigröße, deren Ausgangsbogen in etwa die Maße 32 × 45 cm aufweist.[5] Zu unterscheiden von der Größe eines solchen Ausgangsbogens ist das jeweilige Format des entstehenden Codex. So entsteht durch das einmalige mittige Falten des Bogens ein Doppelblatt, das als Folioformat bezeichnet wird. Durch zweimaliges Falten entstehen zwei Doppelblätter im Quartformat, durch dreimaliges Falten vier Doppelblätter im Oktavformat und so weiter. Die Entscheidung, welches Format für einen Codex gewählt wird, kann dabei Aufschluss über den funktionalen Status desselben geben. Während Codices im Folio-Großformat unter anderem für repräsentative Prachthandschriften Verwendung fanden, schienen kleinformatige Oktavhandschriften eher für alltäglichere Gebrauchstexte – bspw. für ein Gebetsbuch zur individuellen Andacht – geeignet.