Orientierungswissen mittelalterlicher Handschriftenkunde

I. Hinführung

Problemlagen

Dieser Übertragungsprozess eines handschriftlich überlieferten, mittelalterlichen Textes in eine moderne Edition ermöglicht einerseits eine leichte Verfügbarkeit des Textes, der so auch einer breiteren Öffentlichkeit niedrigschwellig zugänglich gemacht werden kann. Bei einer tiefergehenden Auseinandersetzung mit einem mittelalterlichen Text, seinen überlieferten Fassungen und seiner modernen Editionslage wird jedoch deutlich, dass das Vorhandensein einer oder mehrerer Editionen nicht per se von der Auseinandersetzung mit der Überlieferungsgeschichte des Textes dispensieren kann. Editionen können zum einen einen überholten, unvollständigen oder unzuverlässigen Wissenstand widerspiegeln: Wichtige Überlieferungsträger werden nicht miteinbezogen, editorische Eingriffe sind nicht nachvollziehbar oder ein Lesartenapparat fehlt, ist unvollständig oder fehlerhaft. Zum anderen kann auch der methodische Ansatz einer Edition, dem eigenen Erkenntnisinteresse hinderlich sein und die Arbeit am Text verkomplizieren.

Die gravierendste Problemlage im Spannungsverhältnis zwischen mittelalterlichem Text und moderner Edition hängt allerdings weniger mit qualitativen Aspekten der vorhandenen Editionen zusammen, sondern vielmehr mit quantitativen. Denn nur ein Bruchteil mittelalterlicher Literatur ist bis jetzt editionsphilologisch erschlossen worden.

Zielsetzung

Vor diesem Hintergrund hat diese E-Learning Einheit zwei grundlegende Ziele:

1. Umgang mit Editionen

Moderne Editionen transferieren – wie bereits angeschnitten – nicht nur den Text einer mittelalterlichen Handschrift in eine zeitgenössisch-moderne Darstellungsform, sei es digital oder analog. Sie liefern darüber hinaus eine Fülle an zusätzlichen Informationen, die nicht immer auf den ersten Blick ersichtlich werden. Dementsprechend soll in einem ersten Schritt thematisiert werden, welche Informationen eine moderne Ausgabe eines mittelalterlichen Textes enthalten kann, wie diese im Buch vermittelt und in der Lektüre verstanden werden können.

2. Eigenständiges Arbeiten mit Handschriften

Für Fälle, in denen die Grenzen einer Textausgabe erreicht sind bzw. eine Ausgabe gänzlich fehlt, sollen in einem zweiten Schritt Grundlagen vermittelt werden, die das eigenständige Arbeiten mit Handschriften erleichtern. Welche Erkenntnisse kann ich bei einem Blick auf eine Handschrift und deren Überlieferungskontext gewinnen und auf welche Hilfsmittel kann ich dabei zurückgreifen.